Warum glauben wir überhaupt, dass wir jemanden retten müssten?
Wenn der zu Errettende nichts von seinen Problemen wissen will
Wie bereits im ersten Teil von „Wenn Liebe weh tut – Bedrohliche Nähe“, möchte ich mich auch dieses Mal einer schwierigen zwischenmenschlichen Thematik zuwenden. Dieser Beitrag handelt von einer Dynamik, in der wir versuchen eine Person, die uns wichtig ist, zu „retten“.
Ein Rettungsunterfangen, welches uns an die Grenzen des Machbaren bringt. Egal wie sehr wir uns auch bemühen, wir werden mit unserem Rettungsversuch scheitern. Wir erleben, wie ohnmächtig und hilflos wir sind, wenn wir jemanden – vor sich selbst – retten wollen.
Jemanden retten
Es existiert ein Unterschied, ob wir eine Person retten wollen, oder ob wir dieser Person „nur“ helfen wollen. Im Gegensatz zum „Retten“ sind wir nämlich durchaus in der Lage, anderen Menschen zu helfen, diese zu unterstützen und zu begleiten.
Wollen wir hingegen jemanden retten, befinden wir uns in einer unangenehmen psychischen Dynamik. Wie bei allen zwischenmenschlichen Dynamiken sind wir dabei emotional höchst involviert und mit der betreffenden Person verstrickt.
Jemanden zu retten bedeutet diese Person „aus einer Gefahr, einer bedrohlichen Situation befreien und dadurch vor Tod, Untergang, Verlust, Schaden o. Ä. zu bewahren.
Auf der körperlichen Ebene ist es durchaus möglich, andere Menschen zu retten. Auf der psychischen Ebene – also eine Person vor sich selbst, vor ihren Gefühlen, Gedanken oder Verhaltensweisen zu beschützen – ist hingegen zum Scheitern verurteilt.
Negative Verhaltensweisen
Meist wollen wir Menschen retten, zu denen wir ein gewisses Maß an Nähe empfinden. Oft handelt es sich hierbei um Eltern, Kinder, Geschwister, Partner oder Freunde. Wir haben eine emotionale Verbindung zu dieser Person und weil wir an dieser Person hängen und/oder sie mögen, wollen wir natürlich auch nicht, dass sie vor die „Hunde geht“.
Wir wollen Unheil von dieser Person abwenden, die gleichzeitig durch
ihr Verhalten oder
durch ein Ignorieren von unangenehmen Realitäten
dazu beiträgt, dass dieses Unheil überhaupt erst herbeigeführt wird.
Warum glauben wir überhaupt, dass wir jemanden retten müssten?
Um einen Rettungsimpuls zu verspüren, müssen wir annehmen, dass
die betroffene Person in irgendeiner Weise bedroht oder in Gefahr ist,
sich die Situation dieser Person verschlechtern wird, wenn sie keine Unterstützung erfährt und wir uns verantwortlich dafür fühlen - siehe auch Beitrag: “Wenn ich es nicht mache, macht es keiner!” und
diese Person nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen.
Fallen diese Variablen weg – ist eine Person nicht gefährdet, wird sich ihre schwierige Situation bald verbessern oder ist sie in der Lage sich selbst zu helfen – kommen wir gar nicht auf die Idee, diese Person retten zu müssen.
Die existenzielle Dimension des Rettens
Beim Retten schwingt eine existenzielle Bedrohung mit, auf die jemand zusteuert. Meist zeigt der von der Gefahr Betroffene keine Einsicht, was dazu führt, dass er sein Verhalten nicht verändern wird.
Wollen wir eine Person retten oder
von jemanden, oder einer höheren Macht, gerettet werden,
so ist dies stets ein Hinweis darauf, dass wir uns in einer ungünstigen Dynamik verfangen haben. Jemanden retten zu wollen oder von jemanden gerettet zu werden, weist schon auf die Unmöglichkeit dieses Unterfangens hin.
Wenn wir bereits bei einer einzelnen Person mit unserem Rettungsversuch scheitern, werden wir erst recht scheitern, wenn wir glauben, wir müssten die Menschheit retten oder die Menschheit müsste gerettet werden.
Die fehlende Einsicht des “zu Rettenden”
Um überhaupt den Eindruck zu gewinnen, dass jemand gerettet werden sollte, müssen wir eine Gefahr für diese Person wahrnehmen. Die Person steuert sozusagen – für uns ganz offensichtlich und vor „unseren Augen“ – auf eine Gefahrensituation zu. Wir erkennen die Gefahr und sehen möglicherweise sogar den Absturz einer Person voraus.
Aber nur, weil wir eine Situation als bedrohlich einschätzen, bedeutet es noch lange nicht, dass die betroffene Person dies ebenfalls so sieht.
Wir verspüren ja nur dann den Impuls jemanden retten zu wollen, wenn die zu errettende Person
kein Problembewusstsein hat,
keine Verantwortung für sich und ihr Verhalten übernimmt oder
gar nicht glaubt, dass sie etwas bewirken und somit die Situation verändern könnte.
Aus dem Buch des bewusst seins Seite 64:
„Im Unbewussten übernehmen wir keine Verantwortung, weder für uns selbst noch für unser Handeln. Übernehmen wir keine Verantwortung für unser Leben, manövrieren wir uns in eine ohnmächtige Position. Wir machen uns handlungsunfähig und können damit nichts mehr verändern."
"Übernehmen wir keine Selbst-Verantwortung, bleibt diese im psychischen Raum liegen. Die Erfahrung zeigt, dass sie dann von einer anderen Psyche aufgegriffen wird. Jene Menschen, die Verantwortung für sich selbst übernehmen, sind am ehesten geneigt, sich zuständig für andere zu fühlen. Niemand übernimmt Verantwortung für einen Menschen, der die Verantwortung für sich selbst übernommen hat oder wo sie bereits ein anderer trägt. Nur eine „herrenlose Verantwortung“ löst in der Psyche das Gefühl aus, verantwortlich zu sein. Das bedeutet: Fühlen wir uns für einen anderen Menschen verantwortlich, ist dies häufig ein Anzeichen dafür, dass dieser keine Verantwortung für sich und sein Leben übernimmt oder übernehmen kann.“
Wenn der zu Errettende nichts von seinem Problem wissen will
Es ist schwer jemanden zu retten, wenn diese Person der Meinung ist, dass sie
kein Problem hat– ein Süchtiger, der meint, er hätte seine Sucht unter Kontrolle
nicht die Verantwortung dafür trägt – die Ursache der Probleme nicht bei sich, sondern nur bei den anderen sieht oder bei der erlebten Geschichte, wie eine Traumaerfahrung
nicht in Gefahr ist – ein Mensch, der seine emotionalen Probleme, sein finanzielles Desaster oder seine gesundheitlichen Probleme ausblendet
keine Selbstwirksamkeit besitzt – also nichts in ihrem Leben bewirken und somit verändern kann.
Der Retter will den Betroffenen retten, aber der Betroffene will nicht oder nicht von ihm gerettet werden. Warum sollte der zu Errettende dann mitarbeiten, seine eigene Rettung unterstützen oder gar dankbar für den unliebsamen und als übergriffig empfundenen Rettungsversuch sein?
Wenn eine Frau ihren – in ihren Augen alkoholkranken – Mann ständig ermahnt, nichts zu trinken, wird dieser wahrscheinlich nicht freudig auf ihre Ermahnungen reagieren. Er wird verärgert sein, wenn sie ihm sein Glas abnimmt oder ihn aus der Kneipe holt.
Keine Einsicht, keine Verantwortungsübernahme
Übernimmt eine Person Verantwortung für sich und ihr Leben, haben wir keinen Impuls, diese Person retten zu müssen. Retten wollen wir nur jemanden, der
keine Einsicht zeigt – der nicht den Eindruck hat, dass seine Ansichten, der Ausdruck oder fehlende Ausdruck seiner Gefühle oder sein Verhalten zu Problemen führen,
die drohende Gefahr ignoriert,
keine Verantwortung für sich oder sein Verhalten übernimmt,
durch sein Verhalten dazu beiträgt. sich auch weiterhin in Gefahr zu begeben und
keine Veränderungsschritte setzt.
Wenn wir betrachten, welche Personen diesen Rettungsimpuls in uns auslösen, wird klar, warum es geradezu unmöglich ist, jemanden zu retten.
Der hilflose „zu Errettende“
Wollen wir jemanden retten, sprechen wir dieser Person die Fähigkeit ab, sich selbst helfen zu können.
Die „zu rettende Person“ wird als uneinsichtig, als unwissend oder hilflos angesehen. Folglich gehen wir davon aus, diese Person kann sich selbst nicht helfen und braucht andere, die sie retten.
Wollen wir selbst gerettet werden – nehmen wir uns wahrscheinlich nicht als uneinsichtig wahr, dass schmeichelt unserem Ego nämlich nicht. Uns selbst nehmen wir eher als unwissend wahr – wir sehen das große Ganze nicht – als ohnmächtig, hilflos und anderen oder der Situation ausgeliefert. Wir glauben, wir können nichts tun, nichts bewirken und nichts verändern. Und weil wir nichts tun können, brauchen wir andere, die uns retten.
Auf den „richtigen Retter“, auf den Erlöser warten
In der Dynamik des „Rettens“ herrscht eine gewisse Erstarrung und Stagnation. Solange wir einen Retter – also eine Person im außen oder eine höhere Macht – suchen, kommen wir selbst nicht in Bewegung.
Wir mögen eine Person kurzfristig retten können, wenn diese ins tobende Meer springt, ohne überhaupt schwimmen zu können. Aber was tun wir, wenn diese Person immer wieder ins Meer zurückdrängt und sich von ihrem gefährlichen Unterfangen nicht abhalten lässt? Solange eine Person ihr Verhalten nicht verändert, wird es schwierig werden, sie langfristig zu retten.
Des Retters Schuld
Die Abwehr der Eigenverantwortung wird sichtbar, wenn das Scheitern schlussendlich am „Retter“ liegt. Der Retter
war nicht kompetent genug. Jemand, der sein Handwerk wirklich versteht, hätte helfen können
hat nicht genug investiert, hatte keinen ausreichend langen Atem, nicht genug Ausdauer, hat zu früh aufgegeben, nur ein wenig länger noch, dann hätte geholfen werden können
war nicht stark genug, hat nicht genug geliebt
um wirklich eine Veränderung herbeizuführen.
Der ohnmächtige Retter
Letztendlich steckt der Retter in derselben Abhängigkeit wie die Person, die er retten möchte. Es gibt nämlich nur einen Ausstieg aus dieser Dynamik - die Rettung muss glücken und zwar langfristig!
Was passiert, wenn die Rettung misslingt oder nicht von Dauer ist? Dann muss der Retter entweder
zulassen, dass der andere seinen zerstörerischen Weg weiterverfolgt – also immer wieder ins Wasser läuft oder
weiterhin versuchen, diese Person zu retten – also am Strand verharren, dass Verhalten des anderen überwachen und dabei auf das eigene Leben vergessen.
Aufgeben und zuschauen
Es fällt uns schwer, die Vorstellung aufzugeben, wir könnten jemanden retten. Der Rettungsversuch gründet ja in der Befürchtung, dass diese Person ohne diese Unterstützung abstürzt, zu Grunde geht oder stirbt.
Haben wir uns in dieser Dynamik verfangen, müssen wir schmerzhaft lernen, dass wir bei anderen Menschen oft nur zusehen können, wenn die Tragödie ihren Verlauf nimmt. Zusehen, wie ein Mensch, an dem uns etwas liegt auf eine Gefahr zusteuert, ohne dass wir dies verhindern könnten, gehört zu den schwierigsten Herausforderungen unseres Lebens.
Ohne Einsicht, wenig Aussicht
Der Rettungsimpuls ist eine völlig normale Reaktion, wenn wir sehen, wie jemand auf eine Gefahr zusteuert und manchmal sogar noch Vollgas dabei zu geben scheint. In solchen Momenten verspüre auch ich den Impuls, die andere Person vor ihrem eigenen Verhalten zu bewahren.
Schlussendlich befinden wir uns hier aber an der Grenze unseres persönlichen Wirkungskreises. Ich kann weder das Denken, Fühlen noch das Verhalten einer anderen Person verändern. Somit kann ich nur auf eine Gefahr hinweisen, meine Sorge kundtun und meine Unterstützung anbieten. Ob der andere diese Gefahr ebenfalls sieht und meine Unterstützung will, ist und bleibt seine Entscheidung.
Zum Schluss bleibt nur noch zu sagen: Wir können niemanden retten und auch uns wird niemand retten!
Aber die gute Nachricht ist:
Jeder Mensch,
kann in jedem Moment
zur Einsicht kommen und somit
seine Sichtweise und
seine Verhaltensweise verändern!
Sollte Ihnen dieser Beitrag geholfen oder gefallen haben, würde ich mich sehr über eine finanzielle Unterstützung meiner Arbeit freuen.
oder gerne auch direkt auf mein Konto:
Kontoinhaberin: Mag. Brigitte Fuchs
IBAN: AT20 3600 0000 0071 9542
BIC: RZTIAT22
Sehr schöner Beitrag, dadurch hat man eine ganz andere Sicht auf vieles. Jetzt ist klar warum alle Warnungen nicht angekommen sind und weiterhin nicht ankommen.
Dankeschön! Genau diese bitterste Erfahrung meines Lebens mußte ich mit meiner 1.Schwiegermutter und meinem Sohn auch machen.Wenn sie nicht können oder nicht wollen,kann man nichts tun und muß sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen, auch negative!!! Nur dann kommen sie in die Eigenverantwortung und müssen ihr Handeln verändern oder gehen unter.Im 1 Fall war das leider so! Mein Sohn lernt gerade und unser Verhältnis verbessert sich wieder langsam.Aber ich mußte mich zurück ziehen und gut um mich selbst kümmern, Grenzen ziehen lernen. Das auszuhalten ist sehr schwer,aber Not-wendig für alle Beteiligten!!!