Verlassenheitsgefühl und die Angst vor einem erneuten allein sein
Dieses Mal möchte ich mich einem Glaubensmuster zuwenden, welches zum Themenkreis der Verlassenheitsgefühle gehört. Es beschreibt eine Angst vor dem Alleinsein, die sich vor allem dann zeigt, wenn es einem nicht gut geht.
Alle Glaubensmuster, die ein Gefühl des „allein- und verlassen seins“ ausdrücken, erzählen von einer frühen Verletzung. Sie berichten von einer alten Wunde die daraus entstanden ist, dass jemand in einer schwierigen Situation Alleingelassen wurde. Die Annahme „Wenn es mir schlecht geht, ist keiner für mich da,“ weist ja auf die Abwesenheit einer wichtigen Bezugsperson in einer Notsituation hin. So wie alle Glaubensmuster, erzählt es ein wenig von der eigenen Lebensgeschichte.
Glaubensmuster führen zu einer Wiederholung der Erfahrung
Doch es gibt eine Schwierigkeit bei den Glaubensmustern: Haben wir erst einmal ein Glaubensmuster entwickelt, wird sich die jeweilige Erfahrung – auch wenn sie noch so unerwünscht ist - wiederholen. Das liegt daran, dass uns
negative Glaubensmuster dazu verleiten, eine gewisse Erwartungshaltung so wie ein damit einhergehendes Abwehr- und Vermeidungsverhalten zu entwickeln,
positive Glaubensmuster dazu verführen, eine gewisse Erwartungshaltung mit einem damit einhergehenden Verhalten einzunehmen.
Glaubensmuster beeinflussen unsere Haltung wie unser Verhalten. Genau dies trägt schlussendlich aber dazu bei, dass sich die jeweilige Erfahrung wiederholt. Wiederholen sich unsere Erfahrungen, erleben wir nicht mehr, dass es auch anders sein könnte, denn wir machen keine anderen Erfahrungen mehr. Also keine Erfahrungen, die diesem Glaubensmuster widersprechen würden und es somit verändern könnten. So verfestigt sich das jeweilige Glaubensmuster, weil es sich ständig bestätigt.
Die Entstehung des Glaubensmusters
Üblicherweise wird die Basis eines Glaubensmusters bereits in der Kindheit gelegt. Bei diesem Glaubensmuster gab es einschneidende oder sich wiederholende Erfahrungen, in denen wir in schwierigen Lebenssituationen erlebt haben, wie wir mit unserer Not allein geblieben sind.
In der schlimmsten Form bedeutet es, dass eine bedeutsame Bezugsperson, wie beispielsweise die Mutter, gestorben ist und wir allein mit dem Schmerz und der Trauer zurückgeblieben sind. Konnte das damalige Umfeld unseren Schmerz und unsere Trauer nicht ausreichend begleiten, wird das Gefühl der Verlassenheit noch zusätzlich verstärkt.
In harmloseren Situationen, die in Summe aber ebenfalls als sehr schmerzhaft empfunden wurden, bedeutet es, dass wichtige Bezugspersonen nicht für uns da waren, als es uns schlecht ging. Dann wurden wir in einer für uns schwierigen Erfahrung allein gelassen. Je früher dieses „verlassen und allein gelassen sein“ stattfindet – wie bei kleinen Kindern, die ohne Eltern im Krankenhaus sind – umso tiefgreifender wird diese Erfahrung erlebt. Ein kleines Kind ist noch nicht in der Lage, sich ausreichend selbst zu beruhigen, sich zu trösten oder zu verstehen, was gerade passiert und warum die Eltern es im Stich lassen.
Der abwesende Andere
Das wichtige Bezugspersonen nicht für ihr Kind da sind, hat nicht unbedingt damit zu tun, dass diese Eltern prinzipiell ignorant, nicht empathisch, kalt, abweisend oder böse wären. Viel häufiger sind es die Lebensumstände der Eltern oder deren eigene Themen, die solche Erfahrungen begünstigen.
Eine Mutter, die noch weitere Kinder zu versorgen hat, wird möglicherweise Schwierigkeiten haben, bei ihrem Kind im Krankenhaus zu bleiben. Ein Vater, der gerade seine Frau verloren hat, muss erst einmal seine Trauer so wie die neue Lebenssituation in den Griff zu bekommen und hat wahrscheinlich wenige Ressourcen, sich um die Gefühle seines trauernden Kindes zu kümmern. Aber auch Eltern, die viel arbeiten, überforderte AlleinerzieherInnen, Geschwister mit vermehrten Bedürfnissen oder Eltern, die selbst nicht gut mit ihren negativen Emotionen umgehen können, haben Schwierigkeiten, die emotionale Not ihrer Kinder zu erkennen und diese dabei zu begleiten.
Nicht immer liegt die Ursache nur an den Eltern. Gerade feinfühlige und hochsensitive Kinder neigen vermehrt zur Entwicklung dieses Glaubensmusters. Aufgrund ihrer Feinfühligkeit nehmen sie sich nämlich zurück, wenn sie spüren, dass ihre Eltern überfordert oder in Not sind. Sie wollen ihre Eltern nicht belasten, muten sich ihnen nicht zu und bleiben dadurch oft mit ihrer Not alleine. Über die Hochsensitivität werde ich in einem weiteren Beitrag noch ein wenig ausführlicher schreiben.
Verknüpfung unterschiedlicher Themen
Ein Glaubensmuster zeichnet sich stets dadurch aus, dass wir verschiedene Themen miteinander verknüpfen, die im Grunde nicht zusammengehören. Das liegt daran, dass wir schmerzhaft erlebt haben, wie sie zusammen aufgetreten sind.
Beim vorliegenden Glaubensmuster besteht die Verknüpfung darin, dass es mir nicht gut ging und ich in meiner Not allein geblieben bin. Womit eine Verbindung zwischen der eigenen Not und dem Alleinsein geschaffen wird. Haben wir diese Verknüpfung erst einmal aufgebaut, bringen wir diese Themen auch weiterhin miteinander in Verbindung.
Bin ich allein – geht es mir nicht gut oder
es geht mir nicht gut – und ich fühle mich in solchen Situationen rasch alleingelassen.
Somit wären wir bei der Kernaussage dieses Glaubensmusters angelangt. Der erste Teil der besagt: Es geht mir nicht gut – also irgendetwas bedrückt mich, macht mich traurig, schmerzt mich. Der zweite Teil des Musters beschreibt das Verhalten, dass ich mir in solchen Situationen von den anderen erwarte. Ich gehe davon aus, dass keiner für mich da ist und ich mit meinen negativen Gefühlen alleine bleibe.
Der Schmerz des „Alleinseins“
Glauben wir, das niemand für uns da ist, wenn es uns schlecht geht, entwickeln wir ein Rückzugsverhalten. Dann werden wir in emotionalen Notsituationen nicht mehr unbedingt nach einer schützenden und umsorgenden Beziehung suchen, auch wenn wir uns diese eigentlich wünschen würden. Wir gehen ja davon aus, dass niemand für uns da ist und ziehen uns vorsorglich schon einmal zurück, wenn es uns schlecht geht. Genau dieses Verhalten führt aber dazu, dass wir erneut alleine bleiben mit unserer Not. Und weil wir alleine damit bleiben, tut es gleich noch ein bisschen mehr weh. Nun erleben wir den Schmerz der jeweiligen Situation, plus den Schmerz der Verlassenheit.
Häufig kümmern sich Menschen mit diesem Glaubensmuster sehr um Andere. Das liegt daran, dass sie den „Schmerz des allein gelassen seins in der Not“ nur allzu gut kennen und selbst sehr darunter leiden. Ein Schmerz, den sie niemanden zumuten wollen. So versuchen sie für andere da zu sein, manchmal ohne dass sie darum gebeten wurden. (siehe auch: Wenn ich es nicht mache, macht es keiner!) Dabei erkennen sie nicht, dass dieses „allein sein in der Not“ zwar ihren wunden Punkt beschreibt, der andere aber möglicherweise gar nicht so sehr darunter leidet oder vielleicht sogar froh ist, wenn er seine Ruhe hat.
Im Grunde verhalten sie sich so, wie sie es sich von ihren Mitmenschen wünschen würden. Das jemand einfach sieht, dass es ihnen nicht gut geht und für sie da ist, ohne dass sie etwas sagen müssen. Es liegt nahe, dass die Enttäuschung groß ist, wenn ihre Mitmenschen nicht in derselben Form für sie da sind, wenn es ihnen einmal schlecht geht.
Unser Verhalten wird vom Glaubensmuster geprägt
Leider erkennen wir unsere Glaubensmuster nicht als solche, sondern gehen davon aus, dass diese Annahme berechtigt ist. So wird das Glaubensmuster zu einer Selbstverständlichkeit, welche weder hinterfragt, noch angezweifelt wird.
Aus dieser Haltung heraus reagieren wir dann auf unser Umfeld. Gehe ich davon aus, dass keiner für mich da ist, wenn es mir schlecht geht, wird dies nicht nur mein Denken und Fühlen, sondern auch mein Verhalten beeinflussen. Und genau hierin liegt das Problem. Denn dann werde ich:
mich in meiner Not nicht mehr zeigen, weil ich davon ausgehe, dass es sowieso sinnlos ist,
niemanden sagen, dass es mir schlecht geht, weil ich glaube, dass es keinen interessiert,
mir keine Unterstützung holen oder um Hilfe bitten, wenn ich gerade Zuwendung bräuchte,
mich alleine fühlen, obwohl nahe Menschen in meinem Umfeld wären,
mir wünschen oder sogar erwarten, dass endlich jemand auf meine Not reagiert und das „Richtige“ tut, ohne dass ich etwas sagen, fragen oder bitten muss
nicht für mich dasein, weil ich nicht gelernt habe, diese Fürsorge auf mich selbst anzuwenden.
Ohne das wir uns dessen bewusst sind, tragen wir selbst viel dazu bei, dass sich diese schmerzhafte Erfahrung wiederholt. Aber das erkennen wir anfangs nicht. Denn wir erleben nur eine grausame Wiederholung unserer alten Verletzung. Es scheint egal zu sein, was wir für andere tun, wie sehr wir uns für andere bemühen, oder worum wir bitten, schlussendlich landen wir immer wieder in derselben Misere. Wir fühlen uns unverstanden und im Stich gelassen, wenn es uns schlecht geht.
Es braucht neue Erfahrungen
Um ein Muster aufzulösen, braucht es neue Erfahrungen. Doch die machen wir nicht, wenn wir uns in unserer Not zurückziehen und dem anderen gar keine Chance mehr geben, für uns da zu sein.
Wollen Sie dieses Muster verändern, warten Sie bitte nicht darauf, bis die ersehnte Unterstützung endlich kommt. Wir können unser Verhalten selbst verändern und somit die Voraussetzung für eine neue Erfahrung schaffen. Indem wir beispielsweise sagen, wie es uns geht und aktiv um Unterstützung bitten. Es gibt keine Garantie, dass andere dann für uns da sind, aber es schafft eine Möglichkeit dafür.
Dieses aktive nach Außen gehen und dem Anderen erzählen, wie es einem geht, ist vor allem zu Beginn durchaus schwierig. Denn innerlich herrscht eine große Not. Es gab so viele Momente, in denen wir bereits alleine geblieben sind und dann kommt auch noch die Angst hinzu. Die Angst vor einem erneuten alleine bleiben, die oft zu einem Rückzug führt.
So wird sich die Not anfangs wahrscheinlich in einer sehr hohen emotionalen Intensität zeigen. Dann kann es passieren, dass die Intensität des Leidens nur schwer von den anderen ausgehalten wird. Mit diesem Glaubensmuster erkennen wir aber nicht, dass es ein Problem der emotionalen Intensität ist, sondern erleben, dass wir abermals in unserer größten Not alleine bleiben.
Die Krux an der Sache, so ganz allein lässt sich dieses Muster nicht auflösen, weil es ein Beziehungsmuster ist. Am Anfang brauchen wir das Erleben, dass jemand für uns da ist, damit wir eben eine neue, von unserem Muster abweichende Erfahrung machen können.
Langfristig geht es aber nicht darum, dass andere für uns da sind. Mit der Zeit sollten wir lernen, selbst für uns da zu sein und ein gewisses Maß an Selbstfürsorge und Selbstzuwendung erwerben. Denn es ist höchste Zeit, dass wir nicht mehr so allein sind, wenn es uns schlecht geht. Zeit, dass endlich jemand für uns da ist, wenigstens wir selbst!
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