Je offener wir sind, umso mehr bekommen wir mit
Es gibt Menschen, die sehr offen sind und vieles wahrnehmen.
Es gibt aber auch Menschen, deren Wahrnehmung eher verschlossen ist. Diese nehmen weniger wahr.
Einige der feinfühligen Menschen merken auch, wie sie zunehmend offener werden und noch mehr mitbekommen.
Andere hingegen verzweifeln ein wenig, weil nahe Menschen so wenig mitbekommen, weil sie diese nicht erreichen oder weil diese nicht zu reagieren scheinen.
Aber woran können wir eine verschlossene oder offene Wahrnehmung überhaupt erkennen?
Eine verschlossene Wahrnehmung – gut geschützt mit Helm und Ritterrüstung
Ein Mensch mit einer verschlossenen Wahrnehmung bekommt nur einen kleinen Teil
von seinem Umfeld
vom anderen und
von sich selbst, mit.
Eine verschlossene Wahrnehmung ist ein wenig so, als würden wir durch einen schmalen Schlitz schauen. Das, was in diesem kleinen geöffneten Ausschnitt zu sehen ist, bekommen wir mit. Alles was außerhalb dieser Lücke liegt, ist nicht sichtbar für uns. All die anderen Dinge und Informationen wären da, aber wir bekommen sie nicht mit.
Unsere Wahrnehmung beschränkt sich aber nicht nur auf das, was unsere Augen sehen.
Wir nehmen mit all unseren Sinnen wahr, wir nehmen nicht nur sehend, sondern auch spürend wahr. Und so betrifft eine verschlossene Wahrnehmung nicht nur die Welt des Sichtbaren, sondern viel mehr.
Der schmale Schlitz, durch den wir blicken, gleicht den Schlitzen eines Helmes. Doch da ist nicht nur der Helm, den wir tragen. Der ganze Körper ist gepanzert und steckt in einer Ritterrüstung.
Mit einer verschlossenen Wahrnehmung steht ganz schön viel
zwischen uns und der Welt
zwischen uns und dem anderen und
zwischen unserer Wahrnehmung und unserem inneren Selbst.
Ist dies der Fall, wandeln wir – zumindest auf der Wahrnehmungsebene – mit einer Ritterrüstung durch die Welt.
Mit dieser Ritterrüstung begegnen wir dann auch den anderen oder uns selbst.
Die Vorteile einer verschlossenen Wahrnehmung
Jetzt hat eine verschlossene Wahrnehmung durchaus so ihre Vorteile. Mit einer verschlossenen Wahrnehmung
bekommen wir weniger mit – was ein Vorteil sein kann, weil wir uns dann beispielsweise weniger sorgen oder ängstigen,
werden wir weniger erschüttert,
wird uns vieles nicht erreichen,
sind wir nicht so leicht verletzt,
werden wir nicht sonderlich berührt,
nehmen wir wenig persönlich und
leiden weniger.
Trifft eine Person mit einer Ritterrüstung auf eine herausfordernde Situation, wie auf eine Dornenhecke, die sie verletzen könnte, hat diese Situation keine großartige Auswirkung. Die Ritterrüstung hält vieles ab. Äußere Dornen mögen da sein, sie mögen nach uns greifen, aber sie erreichen uns nicht.
Der Vorteil: Die Ritterrüstung schützt, sie schützt die innere Empfindsamkeit!
Der Nachteil: Eine innere Empfindsamkeit wäre da, aber sie ruht im Verborgenen. Mit der Zeit besteht die Gefahr, dass wir den Zugang zu unserer Empfindsamkeit verlieren.
Verschlossen – Nicht offen für die Welt, für den anderen, für uns selbst
Schlussendlich ist es die Wahrnehmung, die bestimmt, wie wir die Welt, die anderen oder uns selbst wahrnehmen.
Mit einer verschlossenen Wahrnehmung werden wir nicht offen in die Welt oder auf andere zugehen, wir sind auch nicht offen für uns selbst.
Jetzt kann das nur ein vorübergehender Zustand sein – weil wir gerade verletzt oder gekränkt sind, weil wir krank sind, weil wir viel zu tun haben oder gedanklich ganz woanders sind,
es kann aber auch unsere generalisierte Wahrnehmungsform sein, eine grundsätzliche Haltung, mit der wir dem Leben begegnen.
Anzeichen dafür, dass unsere Wahrnehmung gerade eingeschränkt oder verschlossen ist
Es gibt Anzeichen dafür, dass unsere Wahrnehmung gerade verschlossen ist:
Wir nehmen nur sehr eingeschränkt Informationen auf. Die Informationen wären da, aber wir können sie – aufgrund unserer eingeengten Wahrnehmung – nicht sehen.
Weil uns viele Informationen nicht erreichen, werden wir einiges nicht mitbekommen.
Über Dinge oder Situationen, die wir gar nicht bemerken, werden wir uns keine Gedanken machen. Wir denken nicht sonderlich über andere, über unsere Beziehungen, über unsere Gefühle oder über uns selbst nach.
Wir spüren weniger und sind auch nicht sonderlich feinfühlig.
Auch der Körper reagiert nicht sehr empfindsam.
Eine „unterkühlte“ Haltung
Mit einer verschlossenen Haltung haben wir wenig Verständnis und wenig Mitgefühl. Wir gehen nicht wirklich auf den anderen ein und lassen uns nicht von diesem Menschen berühren. Der andere lässt uns kühl und manchmal sogar kalt.
Diese „unterkühlte Haltung“ wenden wir nicht nur gegenüber anderen Menschen an. Wir lassen uns auch nicht sonderlich von uns selbst berühren, haben wenig Mitgefühl und Verständnis für uns selbst. Wir reagieren auf uns selbst auch mit einer gewissen Kühle.
Die versteckte Empfindsamkeit
Auch wenn wir verschlossen sind, wäre unser Innersten empfindsam. Diese Empfindsamkeit liegt nur tief im Verborgenen und ist noch nicht an die Oberfläche gelangt. Doch damit ist sie weder dem anderen noch uns selbst zugänglich.
So mögen wir zwar innerlich empfindsam sein, das hält uns aber nicht unbedingt davon ab, dass unsere äußere Fassade gefühllos, hart und kalt sein kann und wir uns mit diesen Seiten identifizieren.
Ein Mensch mit einer verschlossenen Wahrnehmung ist nur schwer zu erreichen.
Hinter der Ritterrüstung bekommen wir viele Dinge nicht mit, wir merken gar nicht, wie traurig oder schmerzhaft eine Situation für uns wäre - “Ist mir doch egal, wenn der Partner aus meinem Leben abhaut!” - oder wie verletzend wir selbst gerade sind - “Ist mir doch egal, wie es dir geht!”.
Aufgrund der eingeschränkten Wahrnehmung des Helms sehen wir es nicht und durch die Ritterrüstung spüren wir es nicht.
Unterschiedliche Facetten der verschlossenen Wahrnehmung
Ich verwende das Bild der Ritterrüstung sehr gerne, wenn ich eine verschlossene Wahrnehmung beschreibe. Denn dieses Bild macht es leicht verständlich, welche Auswirkungen eine verschlossene Wahrnehmung hat und wie unterschiedlich sich eine verschlossene Wahrnehmung zeigen kann.
So können wir von Kopf bis Fuß in einer Ritterrüstung sein, also mit Helm und Rüstung.
Sind wie verletzt, beleidigt oder gekränkt, befinden wir uns gerne in solch einer verschlossenen Haltung.
Wir können aber auch nur mit einem Helm herumwandern, ohne, dass wir eine Ritterrüstung dazu tragen.
Dann bekommen wir selbst zwar nicht viel mit, aber der ungeschützte Körper und die ungeschützte Gefühlswelt reagieren auf all diese Dinge.
Die Feinfühligkeit wäre da, aber sie erreicht uns - oder besser ausgedrückt unsere Aufmerksamkeit - nicht. Ist dies der Fall, verstehen wir nicht, warum unser Körper wieder einmal Symptome zeigt oder warum es uns emotional so geht, wie es uns gerade geht.
Wir können auch mit einer Ritterrüstung herumlaufen, ohne einen Helm zu tragen.
Dann können wir zwar viel sehen und bekommen viel mit, aber wir spüren wenig. Die Informationen, die uns erreichen, dringen nicht in unsere Tiefe vor. Der Verstand versteht etwas, aber es gibt keine Resonanz, keinen Bezug zum Gefühl oder zum Körper.
Wenn sich die Wahrnehmung langsam öffnet – die Winterausrüstung
Normalerweise geht die Wahrnehmung nicht einfach nur auf. Meist ist es ein Prozess und das ist auch gut so. Eine offene Wahrnehmung bedarf einer gewissen inneren Stabilität. Nur offen zu sein, wäre nicht gut für uns. Es ist günstig, wenn wir wenigstens eine grundsätzliche Fähigkeit entwickelt haben mit all dem, was wir dann mitbekommen und spüren, irgendwie auch umgehen zu können.
So geschieht diese Öffnung der Wahrnehmung im besten Fall in unserem eigenen Entwicklungstempo.
Anfangs haben wir immer noch einen guten Schutz und eine klare Abgrenzung. Aber diese Grenze ist nicht mehr so undurchdringlich und starr.
Im Übergang gleicht unsere Wahrnehmung einer Winterausrüstung, mit Wollmütze, Schal und Mantel. Die Winterausrüstung hält vor allem jene Erfahrungen von uns fern, die schwierig für uns werden könnten.
Den Helm haben wir zwar abgelegt, dafür tragen wir aber eine dicke Wollhaube. So können wir bereits um einiges mehr von dieser Welt wahrnehmen. Aber wir können uns auch jederzeit die Mütze oder den Schal ins Gesicht ziehen, wenn wir etwas nicht sehen wollen und der dicke Mantel schützt uns davor, wenn wir etwas nicht spüren wollen.
Treffen wir dann auf eine Dornenhecke, lösen die ersten Dornen wahrscheinlich nicht viel aus. Sie mögen den Mantel streifen, aber so wirklich spürbar werden sie für uns noch nicht.
Verweilen wir allerdings längerfristig in diesem Feld aus Dornen, bahnen sich die Dornen langsam und unaufhörlich ihren Weg durch die Hülle des Mantels. Der erste Kratzer mag wenig bewirken, der nächste Kratzer an derselben Stelle bewirkt bereits ein wenig mehr.
Irgendwann reißt der Stoff und dann dringt die Spitze der Dorne zu uns vor und berührt unsere innere Empfindsamkeit.
Im Übergang entkommen wir unserem Spüren nicht mehr vollständig.
Die „nackte“ Feinfühligkeit
Je feinfühliger wir werden, umso weniger steht
zwischen uns und der Welt,
zwischen uns und dem anderen,
zwischen uns und dem Erleben von uns selbst.
Wir legen die dicke und schützende Haltung, die wir eingenommen haben, zunehmend ab und werden wieder berührbar.
Eine hohe Feinfühligkeit gleicht schlussendlich einer Nacktheit auf der Ebene des Spürens. Das bedeutet, wir bekommen viel mehr mit. Es bedeutet aber auch, dass all das, was wir dann erleben, Auswirkungen auf uns haben wird.
Trifft der feinfühlig nackte Mensch auf eine Dornenhecke, wird
die Verletzung nicht nur sehr rasch spürbar sein, sondern auch um
ein vielfaches intensiver ausfallen,
als wenn dieselbe Verletzung eine Person betrifft, die einen Mantel oder eine Ritterrüstung trägt.
Je weniger zwischen uns und der Welt steht, umso empfindsamer sind wir.
Je weniger zwischen uns und der Welt steht, umso mehr hebt sich die Erfahrung der Trennung auf.
So landen wir zunehmend im erfahrenden bewusst sein.
“Auf der erfahrenden Ebene werden wir wieder so, wie wir immer schon waren. Wir kamen als spürende Wesen in die Welt. Doch mit der Zeit schmerzte uns das Spüren zu sehr, und wir gaben unsere Empfindsamkeit auf. Im erfahrenden bewusst sein kehren wir in unser anfängliches Spüren zurück. Erfahren läuft immer über das Spüren. Weil wir uns damit in unserer Erfahrung selbst wahrnehmen, ist dies die Ebene, in der wir am schnellsten lernen. …” Aus dem Buch des bewusst seins, Seite 244.
Geht es um eine offene Wahrnehmung und der damit einhergehenden Feinfühligkeit, landen wir zwangsläufig bei den Themen Hochsensibilität und Hochsensitivität.
In nächster Zeit werde ich vermehrt und ausführlicher auf diese Themen eingehen.
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