„Wahrnehmen, was ist“ – oder einfach nur schauen
Die Welt könnte eine Welt voller Wunder sein, wenn es uns gelingt einfach nur wahrzunehmen, was ist
Ein Wasserfall in Island
Dieses Mal möchte ich mit einem Erlebnis aus meinem Islandurlaub beginnen. Der Schauplatz des Geschehens – an einem dieser wundervollen isländischen Wasserfälle.
Früh am Morgen, um ein wenig abseits von den Touristenmassen zu wandeln, war ich bereits unterwegs. Meine Müdigkeit verschwand schlagartig, als ich den Wasserfall aus der Ferne erblickte. Voller Freude steuerte ich auf den Wasserfall zu, hörte das lauter werdende Rauschen und sog die herrlich frische Luft ein. Je näher ich kam, umso stärker spürte ich den feinen Wassernebel, der mich zunehmend umhüllte.
Ein wenig andächtig hielt ich inne und blickte voller Bewunderung auf den Wasserfall. Zunehmend lagerte sich der Wassernebel auf meinen Haaren ab und kleine Tropfen zogen über mein Gesicht. Aber das war mir egal.
Nach wie vor verfolgte ich gebannt das Schauspiel und beobachtete dieses Wunder der Natur. Erst nach einer Weile erkannte ich, dass sich der Wasserfall ständig neu formte. Nie war es dasselbe Wasser, welches nach unten stürzte. Der Wasserfall veränderte sich ständig und so sah ich im Grunde jedes Mal einen neuen Wasserfall. Für einen kurzen Augenblick beneidete ich den Wasserfall für seine Fähigkeit, sich so einfach und beständig verändern zu können.
Ich verspürte eine tiefe Dankbarkeit, dass ich hier sein durfte. Während ich einfach nur am Wasserfall stand, verflog die Zeit. Mittlerweile scharten sich immer mehr Menschen um mich, die ich gar nicht wahrgenommen hatte. Zu sehr war ich von diesem rauschenden Naturspektakel gefesselt. Tief beeindruckt von der unermesslichen Kraft des Wassers, welches sich unbeirrbar seinen Weg durch das harte Gestein bahnte. Trotzt des Getöses verbreitete der Wasserfall eine majestätische Stille, die zunehmende Anzahl von Menschen leider nicht.
Irgendwann musste ich mich schweren Herzens losreißen. Erst da fiel mir auf, dass ich noch gar kein Foto gemacht hatte, also zückte ich noch schnell meine Kamera.
Mit der Kamera in der Hand passte ich mich meinem Umfeld wieder an. Alle um mich herum waren mit einem Handy, einer Kamera oder einem Tablet ausgerüstet, welches sich auf den Wasserfall richtete. Während die meisten den Wasserfall vorwiegend durch ihre Linse betrachteten, drehten einige dem Wasserfall sogar den Rücken zu. Im ersten Moment irritierte mich dieses Verhalten, bis ich erkannte, dass sie ein Selfie von sich und dem Wasserfall anfertigten.
In der Zwischenzeit war meine Aufmerksamkeit vom Wasserfall fortgewandert. Fasziniert beobachtete ich das menschliche Schauspiel, das sich vor meinen Augen auftat und einem imaginären Spiel zu folgen schien. Die Suche nach dem perfekten Bild oder in einer abgewandelten Form, die Suche nach der perfekten Pose vor dem Wasserfall.
Die meisten Besucher zogen rasch wieder weiter, wahrscheinlich wartete bereits die nächste Sehenswürdigkeit auf sie. Ich muss gestehen, ich habe kein Selfie am Wasserfall gemacht. Das heißt, ich kann nicht einmal beweisen, dass ich überhaupt an diesem Wasserfall war. Meine Erfahrung am Wasserfall wurde weder von mir gepostet, noch live gestreamt. Die Welt hat keine Ahnung, dass ich hier war. Meine Anwesenheit war ein kleines Geheimnis zwischen mir und dem Wasserfall.
Mit ein wenig Wehmut blickte ich auf den Wasserfall zurück, an dem mittlerweile ein reges Treiben herrschte. Scharen von Menschen kamen und gingen. Ich warf einen allerletzten Blick auf das Treiben, während ich mich fragte, ob sie den Wasserfall überhaupt wahrgenommen hatten oder nur auf dessen Bild am Display sahen?
Es schien fast so, als wäre es wichtiger geworden, der Welt zu zeigen, dass sie hier waren, als sich auf das Erleben des Wasserfalls einzulassen. Ihr Körper war anwesend, aber innerlich waren sie nicht beim Wasserfall. Sie waren mit anderen Dingen beschäftigt und weit weg. Insofern fand ich es fast ein wenig amüsant, wie sich einige in Pose warfen um der Welt zu zeigen, dass sie hier waren, ohne wirklich hier – also präsent, mit allen Sinnen, im hier und jetzt – gewesen zu sein.
Doch schlussendlich löste dieses Geschehen eine ziemliche Betroffenheit in mir aus. Zeigte es doch sehr eindrücklich auf, wie verschlossen wir zeitweise durch diese Welt wandeln. Wenn uns nicht einmal mehr ein beeindruckender isländischer Wasserfall ins hier und jetzt holen kann, was denn dann?
Einfach nur wahrnehmen
Die Szenerie am Wasserfall beschreibt recht eindrücklich, wie schwer es für uns geworden ist, in den gegenwärtigen Moment einzutauchen und einfach nur wahrzunehmen.
Kleine Babys besitzen diese offene momentbezogene Wahrnehmung noch. Diese zeigt sich beispielsweise in jenen Augenblicken, in denen sie fasziniert Gesichter oder ein Tier betrachten. Babys schauen noch voller Interesse in die Welt und auf Menschen. Als Baby konnten wir alle noch wahrnehmen und staunen.
Wir schauen durch die Brille des Verstandes
Je älter wir werden, umso schwieriger wird dieses „einfache Wahrnehmen“ für uns. Denn das frühkindliche Wahrnehmen gründet in einer leeren Wahrnehmung. Es ist ein Wahrnehmen, ohne zu denken.
Sobald unser Verstand involviert ist, wird es schwieriger. Ein Baby denkt noch nicht, Erwachsene hingegen denken sehr viel. Aber es ist nicht nur das Denken, das uns blockiert, wir fangen an, die Welt über den Verstand, sozusagen über die Brille des Verstandes, wahrzunehmen.
So trifft das Wahrgenommene auf unser Wissen. Wir wissen, dass es ein Wasserfall ist, wissen wie ein Wasserfall zustande kommt, welchen Namen dieser Wasserfall hat, dass es noch andere Wasserfälle gibt und vieles mehr.
Und weil wir durch die Brille des Verstandes schauen, bewerten wir das Wahrgenommene auch. Vergleichen mit anderen Wasserfällen, die uns vielleicht besser gefielen, weil sie noch ein wenig schöner, größer oder spektakulärer waren. Zudem interpretieren wir das Geschehen. Ohne es zu bemerken, fügen wir dem Wahrgenommenen eine Vielzahl an Informationen oder Empfindungen hinzu.
Wie Sie sehen: Einfach nur wahrzunehmen, was ist, mag im ersten Moment einfach klingen, doch es ist unsagbar schwierig für uns geworden.
Eine kleine Selbsterfahrung – zurück zum einfachen Schauen
Über den Verstand wahrzunehmen wird uns immer vertrauter, so dass wir ganz darauf vergessen, dass wir zur Abwechslung auch einmal „nur schauen“ könnten. Es schadet nicht dem kindlichen „offenen Schauen“ wieder ein wenig mehr Raum im Leben zu geben. Versuchen Sie doch einmal Folgendes:
Stellen Sie sich vor, Sie stellen sich hinter ihre Augen – es ist ein wenig so, als würden Sie sich ans Fenster stellen – dann blicken Sie ganz bewusst aus ihren Augen und nehmen einfach nur wahr, was Sie gerade vor sich sehen.
Achten Sie währenddessen ein wenig darauf auf, wie rasch Gedanken oder Impulse auftauchen, die Sie wieder weg vom reinen Wahrnehmen ziehen.
Das einfache Wahrnehmen als Beobachtungstechnik
Im Grunde ist dieses „einfach nur wahrnehmen was ist“ eine uralte Technik. Es ist die Technik des Beobachtens.
Dieses Beobachten kann sich
nach außen in die Welt richten – wie der Blick auf den Wasserfall,
es kann sich aber ebenso nach innen richten – dann richten wir unsere Wahrnehmung auf uns selbst und schauen in die innere Welt unserer Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Impulse.
Eine Welt voller Geheimnisse
Gelingt es uns einfach nur wahrzunehmen, können wir Neues entdecken. Nehmen wir über den Verstand wahr, bleiben uns viele dieser Geheimnisse verborgen. Das liegt an der Funktionsweise unseres Verstandes, der gerne alles ausblendet, was nicht in unser Weltbild oder zu unseren Vorstellungen passt.
So frage ich mich gerade, wie viele Menschen haben wohl all diese verschiedenen Wasserfälle mit mir erleben dürfen? Und wie viele Momente habe ich wohl schon verpasst, weil ich mit meinem Kopf ganz woanders war?
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Dieser Beitrag wurde auch im Alpenfeuilleton veröffentlicht.