Geht das Leben zu Ende, erkennen wir, was wirklich zählt
Es ist die gemeinsame Zeit, die wir miteinander teilen.
Leider musste ich unlängst und völlig unerwartet, meine Mama auf ihrem letzten Weg begleiten.
Noch ist es kaum zu fassen, dass sie nicht mehr da ist. Mein bisheriges Leben ist mit meiner Mutter verwoben. Ohne sie würde ich nicht existieren. Sie war einfach nur da und stets ein Teil meines Lebens. Ihre Anwesenheit war die sichere Komponente in meinem Leben. Diese vertraute Sicherheit fiel nun von einem Tag auf den nächsten einfach weg und daher ist mir die ganze Bedeutung ihres Verlustes noch nicht einmal zugänglich. In diesem Moment, tut es einfach nur weh.
Neben der Leere und all der Trauer, die ihr Tod hinterlassen hat, empfinde ich aber auch eine tiefe Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich ihr in ihren letzten Stunden nahe sein durfte und die Möglichkeit hatte, sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten.
Am Ende des Lebens holt und die Wirklichkeit ein
Das eigene anstehende Sterben, so wie der kommende Tod eines geliebten Menschen, katapultieren uns förmlich aus der Komfortzone unseres gewohnten Alltags heraus. Es fühlt sich an, als würden wir auf einmal im grellen Licht der Wirklichkeit landen, in welchem sich schonungslos offenbart, worum es wirklich geht.
Der Tod relativiert alles. Schlagartig wird uns klar, was wirklich wichtig für uns ist. Die üblichen Probleme und Herausforderungen erscheinen in diesem Licht ziemlich trivial. Im Vergleich zu existenziellen Themen wirken andere Probleme geradezu banal. Wem kümmert es schon, wie die Noten aussehen, wie viel Geld am Konto ist, wohin der Urlaub geht, wer wen mag oder nicht mag, wer besser oder schlechter ist oder mit wem man gerade im Streit liegt? Klopft der Tod an die Tür, sinken diese Themen in die Bedeutungslosigkeit ab.
Der Tod, zeigt uns schonungslos auf, worum es im Leben wirklich geht und was zählt. Wir erkennen, wie wertvoll Beziehungen für uns sind. In solchen Momenten ist es wichtig, nicht alleine zu sein und die wenige Zeit, die noch verbleibt, miteinander zu verbringen.
Zurück zum Anfang unseres Lebens
Der Anfang unseres Lebens gleich dem Ende unseres Lebens. Auch dort brauchen wir Beziehungen. Wir kommen als Pfleglinge zur Welt und brauchen andere Menschen, die für uns da sind und uns ins Leben begleiten.
Geschieht die anfängliche Versorgung ohne ausreichenden zwischenmenschlichen Kontakt, werden wir nicht überleben. Eine rein körperbezogene Pflege reicht nicht fürs Überleben. Unsere menschliche Seite muss ebenfalls gehegt werden. Zum Überleben brauchen wir Menschen, die mit uns in Beziehung gehen. Menschen, die feinfühlig sind, sich auf uns einlassen, mit uns kommunizieren und sich liebevoll uns zuwenden.
Beziehungen sind und bleiben wichtig
Aber nicht nur als Baby brauchen wir eine liebevolle Begleitung. Gute Beziehungen sind und bleiben ein Leben lang bedeutsam für uns.
Vor allem in schwierigen und herausfordernden Situationen merken wir, wir wichtig gute und tragende Beziehungen sind. Es ist einfacher, herausfordernde oder auch schreckliche Ereignisse – wie Liebeskummer, Jobverlust, das Ende einer Beziehung, den Tod eines nahen Menschen oder eine traumatische Erfahrung – zu ertragen und zu verarbeiten, wenn sich andere Menschen Zeit für uns nehmen und für uns da sind. Dann erleben wir, dass wir in unserer Not nicht alleine sind und das ist unsagbar heilsam für uns.
Für viele Menschen gehören die eigenen Eltern zur Gruppe der tragenden Menschen, die sie durch ihr Leben begleiten. Das macht den Verlust der Eltern noch herausfordernder.
Lebensanfang und Lebensende
Leben bedeutet immer Veränderung und somit auch Abschied. Irgendwann werden wir, aller Wahrscheinlichkeit nach, den Tod eines geliebten Menschen betrauern müssen und einmal wird es auch so weit sein, dass wir selbst im Sterben liegen.
Das, was wir am Anfang unseres Lebens brauchen, gewinnt auch am Ende unserer Tage an Bedeutung. Sofern wir nicht abrupt aus dem Leben gerissen werden, gleicht das Lebensende dem Lebensanfang. Geht es dem Ende zu, brauchen wir oft erneut Unterstützung und Pflege. In jenen Momenten, in denen wir uns selbst nicht mehr helfen können, hoffen wir auf Menschlichkeit zu stoßen.
Auf unserem letzten Weg brauchen wir Menschen
die sich, wenn wir es nicht mehr können, um unsere körperlichen Bedürfnisse kümmern, die uns pflegen,
die mit uns in Beziehung gehen und sich nicht von uns distanzieren, indem sie uns nur noch als Objekt wahrnehmen,
die nett und verständnisvoll mit uns sind,
die mit uns reden – auf Augenhöhe und nicht von oben herab, die mit uns und nicht über uns reden,
die sich trauen, emotional offen zu sein – die mit uns weinen und vielleicht auch einmal mit uns lachen, um all das, was gerade passiert, ein wenig erträglicher zu machen,
die es wagen, sich nicht hinter irgendwelchen Floskeln oder Techniken zu verstecken, sondern menschlich zu sein.
Am Anfang und am Ende unseres Lebens brauchen wir Menschen, die sich in uns einfühlen und für uns da sind.
Die letzte Chance noch ergreifen
Ob jemand, der uns nahesteht stirbt, oder ob wir selbst sterben, es wird eine Herausforderung sein.
Denn der letzte Weg ist kein einfacher. Wir müssen Abschied nehmen und mit ein wenig Glück, bekommen wir noch ein bisschen Zeit geschenkt, um diesen Abschied zu gestalten. Dann können wir vielleicht noch
sagen, was zu sagen ist,
tun, was zu tun ist und
fühlen, was gefühlt werden will.
Vielleicht bekommen wir die Möglichkeit, den anstehenden Abschied, so grausam und schmerzhaft er auch sein mag, gemeinsam zu betrauern. Denn beide Seiten müssen Abschied nehmen, der Sterbende genauso wie der Zurückbleibende.
Die wertvolle verbleibende Zeit
Die unwichtigen Dinge fallen ab und auf einmal wird die Zeit, die wir noch miteinander verbringen können, wichtig.
Das Bewusstsein, dass es die letzten gemeinsamen Momente sind, verändert vieles. So werden oft lange mit sich getragene Verletzungen und damit einhergehende Vorwürfe angesprochen und bereinigt, es kann zu Entschuldigungen und Aussöhnungen kommen. Am Sterbebett hat man nichts mehr zu verlieren, woraus sich neue Verhaltensmöglichkeiten ergeben können.
Gelingt es diese Zeit gemeinsam zu nutzen, kann es in den letzten Momenten noch zu sehr ehrlichen Begegnungen kommen, wodurch eine intensive Nähe entsteht. Eine Nähe, die wir im Alltag kaum miteinander erlebt haben.
Eine Achterbahn der Gefühle
Abschied geht mit starken Gefühlen einher. Da ist nicht nur Trauer und Schmerz, das gesamte Gefühlsspektrum kann sich zeigen.
Es wird Angst auftauchen und die Angst wird dazu führen, dass wir versuchen, den Abschied zu vermeiden. Dann halten wir beispielsweise fest, wollen nicht dass der geliebte Mensch von uns geht oder verschließen unsere Augen vor dem Unausweichlichen und blenden den nahestehenden Tod aus.
Dann kommt die Zeit, in der wir endgültig loslassen müssen. Jetzt geht es nicht mehr darum, was wir wollen, oder wovor wir uns fürchten. Jetzt geht es darum, da zu sein und dem Sterbenden – falls gewünscht – nicht alleine zu lassen.
Der letzte Weg
Niemand kann den letzten Weg für jemand anderen gehen, wir können nur begleiten. Geht es dem Ende zu, werden wir oft wieder so zart und empfindsam, wie wir es am Anfang unseres Lebens waren. Dann ist es günstig, wenn wir auf dieselbe Feinfühligkeit stoßen.
Der Tod meiner Mutter hat mir noch einmal vor Augen geführt, was im Leben und im Sterben wirklich zählt. Es ist die gemeinsame Zeit, die wir miteinander verbracht haben.
Meine Mama hat mich in mein Leben begleitet und nun durfte ich sie aus ihrem Leben begleiten. Danke Mama, dass ich dich auf deinem letzten Weg begleiten durfte. Dieses Dankeschön richte ich auch an meine Schwester. Denn auch ich war in diesen schweren Stunden nicht alleine, meine Schwester war mit mir an Mamas Seite.
Mein Dank richtet sich auch an alle Menschen, die andere auf ihrem letzten Weg begleiten, so wie an all jene, die die Hinterbliebene nicht alleinlassen und auch diese ein Stück ihres Weges begleiten.
Allein, aber nicht alleingelassen
Nach dem Tod meiner Mutter fühle ich mich „mutterseelenallein“. Die Lücke, die sie hinterlassen hat, wird niemand jemals schließen können.
Manchmal möchte ich einfach nur zum Telefon greifen und sie anrufen, bis mir dämmert, dass ich das nie wieder tun kann. Manches Mal möchte ich einfach nur alleine sein und in Ruhe trauern. Dann aber wiederum tut es gut, wenn andere Menschen da sind und ich spüre, dass ich trotz allem nicht alleine bin.
Wieder einmal wird mir in aller Deutlichkeit klar, was im Leben wirklich zählt. Was zurückbleibt, sind die Erfahrungen, die wir gemacht haben. Für mich sind es die gemeinsamen Erlebnisse und die Zeit, die ich mit meiner Mutter verbracht habe.
So bleibt mir nichts anders übrig, als an jedem Tag, der vergeht, zu lernen ohne dich weiter zu leben. “Pfiat di Mama!”
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Dieser Beitrag wurde auch im Alpenfeuilleton veröffentlicht.