Kalt und immer kälter
Oft kühlen wir ab, wenn wir älter werden. Aber wollen wir das überhaupt?
Kalt und immer kälter
Es ist Herbst. Bald kommt der Winter und damit zieht auch zunehmend die Kälte ins Land. Aber nicht nur im außen wird es kalt und immer kälter, auch in uns wird es mit der Zeit kälter.
Passend zur Jahreszeit, der Refrain des Liedes „Kalt und kälter“ von STS:
„Und i wer´ kalt und immer kälter,
i wer´ abgebrüht und älter,
aber das will i ned und das muss i jetzt klär`n
i möcht lachen, tanzen, singen und rear`n (weinen)
Angst und Schmerzen soll´n mi wieder würg´n
und die Liebe möcht i bis in die Zechenspitzen spür´n“
„Ich werde kalt und immer kälter…“ – Leider beschreibt diese Textpassage von STS eine Dynamik, die uns allen im Leben, mehr oder weniger, widerfährt.
Dabei war der Start ins Leben doch ein ganz Anderer.
Offen, verletzlich, berührbar – so betreten wir die Welt
Kommen wir zur Welt, sind wir sehr empfindsame Wesen.
Vertrauensvoll gehen wir auf die Menschen zu. Wir sind offen, verletzlich und voller Lebensfreude. Neugierig und mit Begeisterung entdecken wir uns selbst, die anderen und die Welt.
Aber lassen Sie uns doch einen kurzen Ausflug in unsere gegenwärtige Realität machen. Wie sieht es denn jetzt aus?
Konnte ich ein wenig von meiner ursprünglichen Empfindsamkeit, Verletzlichkeit und Berührbarkeit in mein erwachsenes Leben mitnehmen?
Wie viel Vertrauen habe ich noch? In mich selbst, in andere, in die Welt oder in das Leben?
Wo ist meine Offenheit, meine Neugier und Begeisterung für dieses Leben, für diese Welt, für mich und für die anderen? Ist da noch eine Neugier und Begeisterung für das Leben, oder hat sich diese bereits verabschiedet?
Am Anfang unseres Lebens sind wir offen, wir haben Vertrauen und sind vom Leben begeistert.
Aber mit der Zeit verändert sich dies. Schleichend und leise, so dass wir oft gar nicht bemerken, wie wir kalt und immer kälter werden.
Drei große Übeltäter, die uns kälter werden lassen
Je älter wir werden, umso mehr verlieren wir unsere offene kindliche Haltung.
Nach meiner Erfahrung gibt es vorwiegend drei Übeltäter, die dazu führen, dass wir verschlossener und kälter werden:
Wir werden verletzt
Die Welt wird uns zunehmend vertraut – dadurch verringert sich unser Interesse – „Es ist immer dasselbe mit dir!“, „Jede Woche derselbe Trott!“, „In meinem Leben ändert sich nichts, alles bleibt gleich“.
Wir funktionieren immer mehr und spüren uns immer weniger.
Wir werden verletzt und verlieren unsere Empfindsamkeit
Wir sammeln unsere Erfahrungen in der Welt. Manche Erfahrungen sind angenehm und schön, andere berühren uns kaum und wieder andere sind unangenehm oder sogar schmerzhaft. In unserem Leben wird es zu Situationen kommen, die uns schmerzen, es wird zu Begegnungen kommen, die uns verletzen und es werden Worte fallen, die uns weh tun.
Zuweilen verletzen uns Menschen,
zeitweise verletzen wir uns selbst und
manchmal tut das Leben einfach nur weh!
Unsere übliche Reaktion auf das erleben von Schmerz ist, dass wir versuchen diesen Schmerz abzuwehren. Wir versuchen uns vor Schmerz zu schützen. Wir wollen
diesen Schmerz nicht spüren
nicht noch mehr Schmerz spüren oder
jemals wieder so verletzt werden, dass es so schmerzt.
So versuchen wir uns vor dem Gefühl des Schmerzes zu schützen. Wir verschließen die Tür zu unserem Herzen. Damit ignorieren wir aber auch unser Spüren und durchtrennen die Verbindung zu unserer Empfindsamkeit.
Mit dieser Trennung fühlen wir uns ein wenig sicherer. Das Leben, andere Menschen, kommen uns nicht mehr so nahe und können uns nicht mehr so verletzen.
Wir verlieren aber auch die Nähe und damit die körperliche und emotionale Berührung!
Ich werde kalt und immer kälter…
Wir verlieren unsere Begeisterung
Am Anfang ist so viel Begeisterung.
Wir können uns für so vieles begeistern. So sind wir begeistert,
vom eigenen Körper, von den eigenen Fingern und Zehen,
von anderen Menschen,
von der Welt
Alles ist so aufregend und neu. Wir erleben Dinge das erste Mal und das ist so spannend!
Je bekannter oder vertrauter etwas für uns ist, umso langweiliger wird es für uns.
Sind wir erwachsen, begeistern uns unsere Zehen schon lange nicht mehr und auch dass wir die Windel hinter uns gelassen haben und selbstständig auf die Toilette gehen können, löst keine Freudentänze mehr aus.
Ist die Selbstverständlichkeit da, ist die Begeisterung fort.
Je selbstverständlicher etwas für uns wird, umso mehr verlieren wir unsere Begeisterung. Ein neuer Partner ist noch sehr interessant. Wir sind begeistert von ihm, neugierig auf ihn und wollen alles von ihm wissen. Doch nach ein paar Jahren Beziehung glauben wir den Partner zu kennen. Unser Interesse schwindet und damit auch unsere Begeisterung für diesen Partner.
Doch wir verlieren nicht nur die Begeisterung für andere Menschen, wir verlieren auch die Begeisterung für uns selbst, für unser eigenes Leben. Denn auch das wird selbstverständlich, auch das kennen wir schon.
Ich werde kalt und immer kälter...
Wir tauschen unsere Lebendigkeit gegen ein Funktionieren ein
Werden wir älter, lernen wir die Welt der Erwachsenen kennen. Im Grunde lernen wir zu funktionieren!
Jetzt ist zu „funktionieren“ nicht per se schlecht.
Doch wie bei allen Dingen, die Menge macht das Gift. Je öfter und je mehr wir funktionieren, umso mehr müssen unsere lebendigen Impulse, die vielleicht etwas ganz anderes wollen, zurückstecken. Vielleicht wollen wir gar nicht in der Schule sitzen, wenn das Wetter so schön ist, angeschlagen arbeiten gehen, schweigen, wenn der Chef einen cholerischen Anfall hat oder Kunden sich verletzend verhalten….
Doch wir machen es, weil es einfach so ist oder so sein soll. Wir funktionieren und während wir in immer mehr Lebensbereichen funktionieren, kühlen wir innerlich ab.
Ich werde kalt und immer kälter…
Langsam und leise werden wir kalt
Der Prozess des emotionalen Abkühlens findet schleichend statt.
Meist ist es nicht ein Ereignis, das uns abkühlen lässt, sondern eine Reihung von vielen größeren und kleineren Ereignissen, die dazu führen, dass wir kalt und immer kälter werden.
Sind wir nicht achtsam, fällt uns dieser schleichende Prozess gar nicht auf. Es fällt uns nicht auf, dass wir zunehmend abstumpfen.
Woran erkennen wir, dass wir kälter werden?
Andere, auch nahe Menschen, berühren uns immer weniger
Wir berühren Menschen nicht mehr sonderlich. Das kann daran liegen, dass dieser Mensch kälter geworden ist. Es kann aber auch an unserer eigenen Kälte liegen. Sind wir kalt geworden, unterbinden wir die Verbindung zu unseren Gefühlen. Das muss nicht bedeuten, dass wir nichts mehr fühlen. Aber wir verschließen uns - sehr schnell - wenn wir unangenehme Gefühle fühlen. Dadurch wird es für andere sehr schwer emotional mit uns in Resonanz zu gehen. Dann geht es uns schlecht, aber wir verdrängen diese Gefühle. Das führt dazu, dass unsere Mitmenschen ebenfalls nicht davon berührt werden und somit auch nicht darauf reagieren.
Immer weniger geht uns nahe, immer weniger berührt uns
Wir lassen uns nicht einmal mehr von uns selbst berühren – haben kein Mitgefühl und kein Verständnis mit uns. Geht es uns schlecht oder sind wir traurig, reagieren wir mit einer gewissen Härte und Kälte darauf.
Das Leben mag dadurch sicherer erscheinen, es mag weniger weh tun, aber gut ist es nicht!
Aber das will ich nicht!
Ich werde kalt und immer kälter - aber will ich das? Will ich so leben?
Im Lied von STS kommt ganz klar die Antwort: “aber das will i net …”
Was wollen Sie?
Wenn Sie sich auch dafür entscheiden, dass Sie sich spüren wollen, hier die gute Nachricht:
Es ist nie zu spät!
Wir mögen uns aus verschiedenen Gründen entschieden haben kälter zu werden. Aber nichts und niemand hindert uns daran, jetzt in in diesem Moment anders zu entscheiden.
Wir können in jedem Moment neu entscheiden: Lasse ich mich auf dieses Leben ein? Lasse ich mich auf dich ein? Lasse ich mich auf mich und auf meine Gefühle ein?
Eine Entscheidung, die immer wieder ein wenig Mut bedarf und ein Wagnis darstellt. Denn es könnte ja weh tun!
Aber das ist das Leben!
Sich auf das Leben einzulassen wird belohnt. Auch wenn es einmal traurig macht oder schmerzhaft ist, so merken wir doch, dass wir am Leben sind.
Wir sind lebendig!
Und das ist gut so!
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