Der Hochmut des Verstandeswissens und die Demut des Erfahrungswissens
Wir brauchen die Erfahrung, wenn wir ein wahres Verständnis entwickeln wollen
Im mentalen Wissen verstehen wir zwar, aber haben wenig Verständnis
Erfahrung macht uns demütig, sie führt zu Verständnis und zu Mitgefühl
Verstandeswissen - ein Wissen ohne Erfahrung
Auch wenn es bereits lange her ist, kann ich mich noch sehr gut an die Zeit meiner Pubertät erinnern.
Eine turbulente Lebensphase, in der ich bereits einiges an Wissen erworben, aber noch nicht wirklich viel erlebt hatte. Ich hatte einiges gelernt und Verstandeswissen aufgebaut. Aber es war eben “nur” ein Wissen.
Das reine Verstandeswissen beschreibt ein Wissen, ohne dass wir die dazugehörende Erfahrung gemacht haben. Es gleicht einem theoretischen Wissen ohne praktische Erfahrung.
Doch obwohl die praktische Erfahrung fehlt, bewerten wir unser Verstandeswissen sehr hoch.
Der Hochmut des Verstandes
Wissen ist nichts Schlechtes, es ist durchaus gut und von Vorteil, informiert zu sein.
Wissen ist aber immer auch ein Futter für unseren Verstand und wir sind sehr verführbar, wenn es um unseren Verstand geht. Denn unser Verstand möchte einfach so gerne gut sein, besser sein oder noch besser “besonders sein”.
So liegt es nahe, dass wir uns leicht etwas auf unser Verstandeswissen einbilden.
Das Wissen des Verstandes geht oftmals mit Hochmut und Überheblichkeit einher. Je mehr wir wissen, umso eher denken wir, wir wären schlauer, klüger, besser oder weiter entwickelt als die anderen.
Eine Erfahrung, die wir gar nicht so selten machen. Häufig erleben wir dies,
am Übergang zum Erwachsenenleben,
am Ende unserer Ausbildung oder unseres Studiums, so wie
am Anfang unserer spirituellen Entwicklung.
Auch ich unterlag diesem Irrtum. Gegen Ende meiner Pubertät dachte ich mir, “ich wisse es besser als die anderen”. Und weil ich es besser wusste, würde ich bestimmte Erfahrungen wohl gar nicht erst machen müssen, so dachte ich zumindest.
Die trügerische Sicherheit des Verstandeswissens - “Ich weiß es besser!”
So blickte ich einst mit der trügerischen “Sicherheit meines Wissen” in die Welt. So manches, was ich sah, fand ich nicht gerade günstig und insgeheim dachte ich mir:
„so“ würde ich mich nie verhalten,
in solch einer Situation würde ich nie landen,
„so“ würde ich nie sein.
In meiner jugendlichen Unbekümmertheit glaubte ich tatsächlich, dass mir gewisse Situationen nicht passieren würden. Und sollte ich mich tatsächlich einmal in einer dieser unangenehmen Situationen wiederfinden, dann würde ich rasch Schritte setzen, um dieser Situation - oder besser ausgedrückt dieser Erfahrung - zu entkommen.
Es erschien mir alles so einfach zu sein - zumindest in meinem Kopf!
Ich glaubte meinem Verstand, war ein wenig hochmütig und dachte tatsächlich “mein Wissen” würde mich vor den Unannehmlichkeiten des Lebens schützen.
Sie können wohl bereits den weiteren Verlauf der Geschichte erahnen.
Wenn das Verstandeswissen auf das reale Leben trifft
Ich ging also hinaus in die Welt und begann meine eigenen Erfahrungen zu machen.
Ich wusste genau, was ich leben und erleben wollte und noch viel genauer wusste ich, welche Erfahrungen ich ganz sicher nicht machen wollte.
Gerüstet mit meinem Verstandeswissen traf ich also auf das reale Leben.
Alsbald stellte ich mit Schrecken fest, dass mein Leben nicht so verlief, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auch ich fing an, mich in Mustern und Dynamiken zu verfangen. Und das,
obwohl ich das nicht wollte und
es doch eigentlich besser wusste!
Auf einmal fand ich mich selbst in Situationen wieder, die ich einst bei anderen kritisiert oder gar verurteilt hatte.
„So“ wollte ich doch nie sein!
„So“ wollte ich mich doch nie fühlen!
In „solchen Situationen” wollte ich mich doch nie befinden,
in “solchen Dynamiken“ nicht wiederfinden!
Verstandeswissen bewahrt uns nicht vor der Erfahrung
Das konnte doch nicht sein!
Ich wusste doch, was ich wollte, wusste wie die Dinge laufen sollten.
Ich hatte das Problem kommen sehen
und wusste, wie es zu verhindern gewesen wäre.
Warum war ich dann dennoch in dieser Erfahrung gelandet?
Und jetzt? Jetzt wusste ich genau was zu tun war.
Aber warum schaffte ich die Umsetzung nicht? Warum gelang es mir nicht, mich möglichst rasch wieder aus dieser Erfahrung herauszuholen?
Kennen Sie solche Situationen auch, in denen Sie ein wenig hochmütig denken, sie wüssten, wie das Leben läuft. Nur um dann mit der Zeit zu erkennen, dass sie keine Ahnung hatten, was all diese Situationen, die sie von außen beobachtet haben, wirklich bedeuten? Und wenn sie dann in so einer Situation stecken, wie wenig ihnen dann ihr bisheriges Wissen - auch wenn es noch so richtig und klug erscheint - hilft.
Das erfahrungslose Wissen
Oft glauben wir es besser zu wissen, ohne jemals eine dementsprechende Erfahrung gemacht zu haben. Welchen Realitätsbezug unser Wissen hat erkennen wir aber erst, wenn wir uns in dieser Situation befinden.
Solange wir selbst keine Kinder haben, wissen wir oft sehr gut, was unsere Eltern alles falsch gemacht haben, oder wie sich Eltern verhalten sollten.
Haben wir eigene Kinder, verändert sich unsere Sichtweise darüber oft drastisch. Auf einmal erleben wir nämlich, wie es ist ein Kind zu haben, was es bedeutet ein Kind zu haben und was eine Elternschaft mit uns macht.
Erst wenn wir eine Erfahrung machen, wissen wir, wie es wirklich ist.
Vorher haben wir nur eine Vorstellung darüber, wie es sein könnte und machen uns Gedanken darüber, wie wir dann reagieren würden.
Aber all das findet nur in unserem Kopf statt. Wir wissen nicht, ob wir in der Realität auch so reagieren würden oder könnten oder nicht.
Solange uns die Realität nicht einholt, können wir an dieser Vorstellung auch weiter festhalten, uns den anderen ein wenig überlegen fühlen und alles “besser wissen”.
Erst wenn uns die Realität einholt, wenn wir genau diese Erfahrung machen, dann erst erkennen wir, wo wir selbst in unserer Entwicklung stehen und was wir leben können.
Verstandeswissen beschreibt nur die Spitze eines Eisberges
Verstandeswissen ist ein Wissen, welches eingeschränkte Informationen beinhaltet.
Ein Wissen ohne Erfahrung - es ist ein rein mentales Wissen
Wir haben eine Sache oder eine Situation über den Verstand betrachtet. Nun denkt der Verstand, er hat etwas verstanden.
Ein Wissen ohne Erfahrung, das uns eine äußere und oberflächliche Sichtweise vermittelt
Über dieses Wissen sind wir durchaus in der Lage, oberflächliche Zusammenhänge zu erkennen, aber wir dringen nicht in die Tiefe des Verstehens ein.
Ein Wissen ohne Erfahrung besteht häufig aus einer Ansammlung von „fremden“ Wissen
Auch wenn es sich dabei um ein Erfahrungswissen handeln kann, ist es nicht meine Erfahrung. Es ist die Erfahrung einer anderen Person. Der eigene Erlebensanteil fehlt dabei.
Weil wir über den Verstand nicht mehr wahrnehmen können, glauben wir, dass wir wissen. Aber eigentlich haben wir nur die Spitze des Eisberges gesehen. Unser Wissen über die Spitze des Eisberges mag durchaus richtig sein. Aber wir haben keine Ahnung von der wahren Größe des Eisberges, keine Ahnung was im Verborgenen schlummert oder welche Dynamiken uns dort erwarten.
Über die Erfahrung vertieft sich unser Wissens
Das reine Verstandeswissen sackt nicht nach unten. Die Informationen dringen nicht in die Tiefe unseres Seins vor. So bleibt es ein reines mentales Wissen.
Erst wenn wir diese Erfahrung machen, offenbaren sich uns jene Aspekte, die bis dahin verborgen waren.
Erst dann merken wir,
wie etwas nicht nur gedanklich, sondern real für uns ist,
wie es sich anfühlt und
was diese Erfahrung alles in uns auslöst und bewirkt.
Und auf einmal ist alles irgendwie ein wenig anders, als wir es uns vorher erdacht haben.
Ohne die dazugehörende Erfahrung mögen wir zwar viel wissen. Doch das Verstandeswissen sagt nur wenig darüber aus, wie es dann wirklich ist.
Diese Erkenntnis hat mich dann ganz schön getroffen. Denn auf einmal befand ich mich selbst in Situationen, in denen ich nie sein wollte oder zeigte ein Verhalten, dass ich einst verurteilte. In meinem jungen Erwachsenenleben bekam mein Hochmut alsbald einen ordentlichen Dämpfer vom Leben selbst.
Im mentalen Wissen verstehen wir zwar, aber wir haben wenig Verständnis
An der Kippe zum Erwachsensein dachte ich einst, ich wüsste viel.
Wie wenig ich wusste, erkannte ich erst später.
Es dauerte, bis mir bewusst wurde, dass ich im Grunde keine Ahnung hatte, solange ich diese Erfahrung nicht selbst gemacht hatte.
Das Verstandeswissen trägt eine gewisse Überheblichkeit in sich, der wir leicht verfallen. So glauben wir tatsächlich oft, wir wüssten es besser, obwohl wir eine Erfahrung nie gemacht haben.
Doch solange uns die Erfahrung fehlt, ist unser Wissen unvollständig. Wir mögen zwar viel von einer Außenperspektive erkennen und verstehen, aber haben wenig Verständnis für das innere Erleben und das daraus resultierende Verhalten des betroffenen Menschen.
Erfahrung macht uns demütig, sie führt zu einem wahren Verständnis und zu Mitgefühl
Im Gegenzug dazu lehrt uns die Erfahrung Demut.
Wir erkennen, wir sind nicht besser als die anderen. Wir sind gleich.
Es ist keine Frage, ob wir besser oder schlechter als die anderen sind. Vielmehr ist es eine Frage, ob wir dieselben Erfahrungen machen oder gemacht haben. Denn wenn wir in solchen Erfahrungen landen, dann erleben wir dieselben Dynamiken. Erst dann erkennen wir, dass es überhaupt nicht so einfach ist, wie es von außen betrachtet gewirkt hat.
Gelingt es uns dann, unsere Erfahrungen zu verstehen, dann entwickeln wir Verständnis und aus diesem Verständnis heraus entwickeln wir Mitgefühl mit all jenen Menschen, denen es genauso ergeht.
Einst dachte ich, ich wisse viel,
schön langsam aber fange ich an zu verstehen.
Sollte Ihnen dieser Beitrag geholfen oder gefallen haben, würde ich mich sehr über eine finanzielle Unterstützung meiner Arbeit freuen. Danke!
oder gerne auch direkt auf mein Konto:
Kontoinhaberin: Mag. Brigitte Fuchs
IBAN: AT20 3600 0000 0071 9542
BIC: RZTIAT22