Das Leiden mit dem Leiden
Leiden ist etwas, das wir tunlichst vermeiden wollen. Dabei kann ein gewisses Maß an Leiden durchaus sinnvoll für uns sein.
Viele von uns suchen in unterschiedlichen Lebensbereichen nach einer Veränderung. Und ja, oft sind wir wirklich hoch motiviert uns selbst oder unser Leben zu verändern. So manches Mal sind wir aber auch eher motiviert, unseren Partner, unsere Eltern oder unsere Kinder zu verändern.
Es gibt viele Gründe zu leiden
Doch warum wollen wir uns überhaupt verändern, warum sind wir nicht einfach zufrieden mit dem, was gerade ist? Sie sehen also bereits, dass in jenen Bereichen, in denen wir eine Veränderung suchen, meist ein gewisses Maß an Leiden dahintersteht. Wir leiden an unserer fehlenden Aktivität oder Spontanität, an unsere Zurückgezogenheit, an der fehlenden Begeisterungsfähigkeit, den fehlenden Begabungen oder der fehlenden Attraktivität oder darunter, dass unsere Entwicklung und die Veränderungen, die wir ersehnen, nicht rasch genug voranschreitet.
Häufig leiden wir nicht nur unter den eigenen Umständen, sondern auch unter dem Verhalten der Anderen. Dann leiden wir darunter, dass wir einsam sind und keine Beziehung haben, leiden unter den Launen des Chefs, unter der Unzuverlässigkeit des Partners, unter der fehlenden emotionalen Zuwendung und dem fehlenden Verständnis der Mutter, darunter, dass sich unsere Freunde nicht melden, sondern wir uns immer melden müssen, darunter, dass wir auf zu wenig sexuelles Interesse stoßen, dass der andere seine Aufgaben nicht erfüllt und wir immer für den Haushalt zuständig sind und es gibt noch so unendlich viel mehr, unter dem wir leiden können.
Unter anderen leiden
Wie Sie in den Aufzählungen erkennen können, leiden wir gerne ein wenig mehr unter den anderen, als unter uns selbst. Aus diesem Leiden heraus entsteht das Bedürfnis nach einer Veränderung und hier sehen Sie bereits ein wenig, wo das erste Problem liegt. Denn leiden wir unter eigenen Themen, dann können wir zumindest noch versuchen, etwas zu verändern. Doch leiden wir unter Gegebenheiten die andere betreffen, wird es bereits schwieriger. Wenn ich nämlich darunter leide, dass der andere seine Aufgaben im Haushalt nicht erledigt oder mir sexuell nie entgegenkommt, nicht empathisch genug auf mich reagiert, kann ich nicht sonderlich viel tun.
Der andere soll sich ändern, damit wir nicht mehr leiden
In solchen Fällen drängt sich förmlich die Frage auf, wie kann ich ihn/sie dazu bringen, sich so zu verhalten, wie ich es gerne hätte? Hier stoßen wir bereits auf das nächste Problem. Wir mögen unter den Eigenarten des Partners leiden, das bedeutet aber noch lange nicht, dass dieser selbst darunter leidet. Wenn der andere aber nicht darunter leidet, warum sollte er sich dann verändern wollen oder eine Motivation für Veränderung finden?
Das große Scheitern
Wenn wir ehrlich sind, haben wir doch alle schon probiert, jemanden in unserem Umfeld dazu zu bringen, sich zu verändern. Und, ist es Ihnen gelungen?
Normalerweise gelingt es uns nicht, den anderen zu verändern. Sogar wenn wir von dieser Person geliebt werden, kommt es zu keiner Veränderung. Eine Veränderung kann nur geschehen, wenn die Person selbst darunter leidet und eine Veränderung anstrebt.
Sich zu verändern ist ganz schön schwer
Aus der eigenen Erfahrung wissen wir doch alle, dass sich zu verändern zwar ein heroischer Wunsch sein mag, aber alles andere als einfach ist. All die guten Vorsätze, die wir schon gemacht haben und woran wir gescheitert sind. Sich zu verändern ist nämlich ein gar nicht so leichtes Unterfangen. Wollen wir uns verändern liegt am Anfang ein beschwerlicher Weg vor uns, denn wir treten erst einmal gegen unsere Konditionierungen an.
Das ist etwas, das wir zwar im Grunde alle wissen, aber was gar nicht so sonderlich gefällt. Wir möchten frei, autonom und selbstbestimmt sein und es gefällt uns nicht sonderlich, dass wir von unseren psychischen Mustern beherrscht werden. Bis wir erwachsen sind, haben wir eine psychische Struktur aufgebaut. Wir haben gewisse Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster gelernt und üben diese auch weiterhin kräftigst ein. Haben wir erst einmal solche Muster erworben, werden wir sie auch gnadenlos wiederholen, egal ob sie uns helfen oder nicht.
Das Leiden ein Unterstützer für unsere Entwicklung?
Sie sehen also, wir brauchen Unterstützung für unseren psychischen Veränderungsprozess. Mit ein wenig „Glück“ – zumindest entwicklungsmäßig betrachtet – haben wir einen relativ hohen und anhaltenden Leidensdruck, der uns mit einem beständigen Takt in eine Veränderung drängt. Da wären wir also wieder beim Leiden gelandet. Der eigene Leidensdruck mag zwar unbequem sein, aber er ist am Anfang auch eine ziemliche Entwicklungsressource. Denn ohne Leiden ist unser Leben zu bequem und wir werden uns nicht auf den Entwicklungsweg begeben.
Doch das Fenster, in dem wir uns mit einem Leidensdruck bewegen können, ist klein.
Ist der Leidensdruck zu gering, jammern wir vielleicht ein wenig, aber wir sind noch nicht ausreichend motiviert, in Bewegung zu kommen.
Wird der Leidensdruck zu hoch, greift er um sich, wir fallen hinein und verlieren uns darin. Dann leiden wir nicht mehr unter einem einzelnen Aspekt oder einem Muster, sondern unter unserem ganzen Sein oder unter unserem Leben. Ein zu stark ausgeprägter Leidensdruck erschlägt uns und wir erstarren. Es ist zu viel, wir haben keine Energie mehr, irgendwelche Prozesse in Gang zu setzen.
Doch nicht nur die Intensität des Leidensdruckes, auch seine Dauer ist von Belang. Ist der Leidensdruck zu kurz, ist er unsere Entwicklung ebenfalls nicht dienlich. Dann mögen wir zwar in den Leidensmomenten hoch motiviert sein, etwas zu verändern, doch sobald der Leidensdruck wieder abflacht, fallen wir in die gewohnten Bahnen unserer psychischen Trägheit zurück.
Der Leidensdruck ist der häufigste Grund, warum Menschen in Therapie gehen. Sie leiden entweder unter sich, unter ihrer Situation oder unter einer anderen Person.
Auf der Couch (*)
Bei unserem Erstgespräch erzählt mir Silke über ihren Leidensdruck. Seit über einem Jahr überlegte sie sich bereits, ob sie nicht eine Psychotherapie beginnen sollte. Sie hatte mich damals bereits im Internet gefunden und wollte mich anrufen. Der erste Impuls in Therapie zu gehen kam, als ihre Beziehung gerade sehr schwierig war. Silke hatte für sich erkannt, dass sich gewisse Beziehungsthemen in ihrem Leben wiederholten. Da sie darunter litt, wollte sie dies verändern. Nur dann ging es in der Beziehung wieder ein wenig besser und sie dachte, es braucht wohl doch keine Therapie. Bei der nächsten Krise wiederholt sich nicht nur dieses Geschehen, sondern auch ihr Impuls, vielleicht doch einmal ein Erstgespräch zu wagen. Schlussendlich dauerte es aber über ein Jahr, bis es ihr möglich war, mich anzurufen und um einen Termin zu bitten. Denn nun war die Beziehung zerbrochen, sie war verzweifelt, der Leidensdruck war hoch.
So wie Silke ergeht es vielen. Wir alle kennen das. Wir leiden unter etwas und in dem Moment wollen wir eine Veränderung. Wir sind hoch motiviert, etwas an unserer elendiglichen Situation zu verändern. Doch schon bald beruhigen sich die äußeren Wogen ein wenig und wir fallen wieder zurück. Flacht der Leidensdruck ab, erscheint uns die Situation nicht mehr so schlimm zu sein. Sobald das Leiden zurückgeht, zieht sich auch unsere Veränderungsmotivation zurück.
Sie sehen also, dass ein gewisses Maß an Leiden und an Leidensdruck zwar etwas Unangenehmes ist, aber psychisch betrachtet durchaus von Vorteil für uns ist. Ohne ein gewisses Maß an Leiden kommen wir nicht in Bewegung, sondern verharren in einem wohligen Status quo. Unser Leiden ist ein wenig wie ein Wecker, der uns dazu drängt, uns auf den Weg zu begeben, uns weiter zu entwickeln.
Am Anfang der Entwicklung hilft uns das Leiden
Doch wie immer, ist es nicht nur eine Frage des Leidens, sondern auch eine Frage, wo wir uns gerade in unserer Entwicklung befinden. Am Anfang unserer Entwicklung ist ein gewisses Maß an Leidensdruck nicht nur förderlich, sondern fast notwendig. Der Leidensdruck hilft uns in Bewegung zu kommen. Sind wir dann aber in Bewegung, braucht es diesen Leidensdruck eigentlich nicht mehr. Doch wir sind verführt dazu, an unserem Leiden festzuhalten, denn es ist und war ja unser Impulsgeber für Veränderung.
Betrachten wir das Thema des Leidens unter dem Bewusstseinsaspekt, ergibt sich eine erweiterte Sichtweise. Haben wir uns auf den Weg der Entwicklung begeben, verliert das Leiden an Bedeutung, es wird im Grunde nutzlos. Zu leiden war unser Einstieg in die Entwicklung und kann als etwas Ähnliches wie die Stützräder eines Fahrrads betrachtet werden. So wie wir irgendwann fahren können und diese Stützräder nicht mehr brauchen, wird auch das Leiden irgendwann überflüssig.
Sich vom Leiden auch wieder verabschieden
Doch es ist gar nicht so einfach sich von diesem Leiden zu verabschieden, denn es ist ein Gefühl, dass uns noch weiterhin begleitet. Dabei ist Leiden eher eine Zuschreibung, die wir treffen. Ja, die Dinge sind wie sie sind und manche davon mögen wirklich unangenehm sein. So kann es mich schmerzen, dass ich so einsam bin, kann es mich traurig machen, dass ich keine bessere Beziehung zu meiner Mutter habe oder mich ärgern, dass ich beruflich übergangen werde. Ob ich darunter leide oder nicht, ist eine andere Sache.
Das hinzugefügte Leiden
Denn das Leiden ist etwas, das nicht prinzipiell in einer Situation vorhanden ist, sondern etwas, das wir einer Emotion oder Situation hinzufügen. Ich kann traurig sein, weil ich mich gerade sehr einsam fühle. Ich kann aber ebenfalls unter meiner Einsamkeit „leiden“. In diesem Fall macht das „darunter leiden“ die Situation noch ein wenig schwieriger, als sie sie bereits für mich ist. Dann bin ich nicht nur traurig und einsam, sondern erschwere die Situation, weil ich ein „darunter leiden“ hinzufüge.
Das “darunter leiden” loslassen
Kann ich dieses „darunter leiden“ loslassen, ist deshalb nicht alles gut. Nach wie vor werde ich erleben, wie ich traurig, verletzt, gekränkt oder verärgert bin, aber es ist nicht mehr so schwer zu ertragen. Denn ohne die Schwere des Leidens bleibt es bei diesen Emotionen.
Sie sehen also, das Leiden schafft unterschiedliche Wirklichkeiten:
Bezieht sich unser Leiden auf etwas im Außen – wie ich leide unter dem Wetter, unter meinem Chef, meiner Partnerin, meinem Nachbarn – so erleben wir uns sehr ohnmächtig und ausgeliefert. Wir können höchstens versuchen, die anderen zu verändern, aber das ist kaum möglich. Haften wir an dieser Form an, bleiben wir im Leiden gefangen.
Richtet sich unser Blick nach innen, werden wir anfangen, die Dinge zu verändern, die zu unserem Leidensgefühl führen. In dieser Form ist zu leiden ein Motor für unsere weitere Entwicklung.
Befinden wir uns bereits auf dem Pfad der Selbstentwicklung, wird es irgendwann auch wieder wichtig, die Haltung des Leidens loszulassen. Wir haben uns auf den Weg gemacht, womit das Ziel des Leidens erreicht wurde. Nun können wir diesen Weg auch ohne „zu leiden“ weiter beschreiten, das Leiden wird nicht mehr benötigt. Halten wir hier am Leiden fest, machen wir es uns schwerer, als es sein müsste.
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(*) Alle Beispiele, die von der Couch erzählen, beschreiben gewisse Dynamiken und Strukturen. Die Klientennamen sind fiktiv und wurden nur für einen leichteren Lesefluss hinzugefügt.